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Abstract


In neunzig Seiten zu Wohlstand light?

In seinem neuen Buch hat sich Willy Bierter viel vorgenommen. Auf rund 90 Seiten versucht er, Wege zu einem neuen Wohlstandsmodell zu entwerfen. Um seinem eigenen ambitiösen Anspruch gerecht zu werden, muss er den Bogen dabei weit spannen. Soviel sei schon vorweg gesagt: Diese thematische Weite und die gleichzeitige Begrenztheit des Umfanges ist die Stärke, aber auch die grösste Schwäche des Buches. <br/> In den umweltpolitischen Debatten der letzten Jahre ist ein neuer, schillernder Begriff (wieder) aufgetaucht: «Wohlstand». Schon in den späten 60er und in den 70er Jahren fanden heftige Debatten um die sogenannte «Wohlstandsgesellschaft» statt. Doch der Begriff verschwand wieder: Im Zuge der Entideologisierung und Technokratisierung der Ökologiedebatte in den 80er Jahren konnte er nicht länger salonfähig bleiben. Nun taucht er wieder auf. <br/> Bierter nähert sich in seinem Buch allerdings nicht systematisch dem Begriff Wohlstand. Er versucht auch gar nicht erst, eine Definition zu liefern. Im ersten (sehr kurzen) Kapitel unternimmt er den - nicht ganz geglückten - Versuch, dem Buch eine Art Rahmenhandlung zu verpassen: Er verwendet dazu das Bild eines Theaterstückes, das auf der alten Erdbühne gespielt wird. Spannender wird es auf den folgenden Seiten, wo er «Die Grenzen des industriell-konsumeristischen Wohlstandsmodells» beschreibt. Seine Ausgangsthese ist nicht neu, aber eingängig; sie lautet: «Die jetzige Form von Wohlstand, den wir für erreicht und als Ausgangslinie künftiger goldener Zeiten halten mögen, ist nicht durchhaltbar.» Darauf aufbauend geht Bierter nun den Grundlagen unseres gegenwärtigen Wohlstandsmodells nach und positioniert sie in einem historischen Kontext. Leider beschränkt er sich im Umfang auf ein paar wenige Seiten, wodurch dieses Kapitel eher wie eine Skizze wirkt und vieles vage bleibt. Als Stützen des Systems nennt Bierter den hohen Energie- und Materialverbrauch, effiziente (nicht öko-effiziente!) Systeme und eine Reihe von regulierenden Einrichtungen. Er kommt zum Schluss, dass wir in der Diskussion eines neuen Wohlstandsmodells dringend die Rolle der Arbeit neu diskutieren müssen. <br/> Bierter appelliert für einen ökologisch verträglichen Wohlstand, warnt aber gleichzeitig: Den Weg dorthin «sollten wir nicht [...] mit Plädoyers für mehr Askese [... und ...] für die moralische Erneuerung des Menschen [...] pflastern». Wieder greift Bierter auf die historische Erfahrung zurück und schreibt, dass bereits der vorindustrielle Mensch hatte umerzogen werden müssen: «Der <neue Mensch> musste lernen, mehr und intensiver zu arbeiten und dafür eine Entschädigung in Form eines zunehmenden Konsums von Waren zu akzeptieren.» Bierter folgert daraus - in Umkehrung gängiger Erklärungsmuster -, dass «uns nicht <Hedonismus>, sondern groteskerweise die Disziplinierung unserer Sinne im Dienst einer immer höheren Entwicklung der Arbeit und ihrer Produktivität» zu «unersättlichen Käufern» macht. <br/> Das Buch kann erwartungsgemäss keine neuen Wohlstandsmodelle entwerfen, sondern es liefert - wie Bierter es nennt - einzelne «Fraktale» dazu: Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität, ökologische Produktionskonzepte, neue Modelle der Arbeit, neue Lebens- und Versorgungsweisen und neue Technologieleitbilder. Die Stärke dieses zentralen Teiles im Buch liegt nicht so sehr in seiner visionären Kraft, sondern im Können Bierters, die verschiedenen Diskurse, die in den letzten Jahren zu diesen Themen geführt wurden, so zusammenzufassen, dass sie einen Zusammenhang erhalten. Bierter greift dabei Debatten aus der Soziologie, der Ethik, der Philosophie und aus der Politologie auf. <br/> Am konkretesten werden die Vorschläge bei den neuen Arbeitsmodellen. Bierter fordert «ein arbeits- und sozialpolitisches Konzept, das dafür sorgt, dass eine wachsende Zahl von Menschen die Chance erhält, in eine reguläre, sinnvolle Beschäftigung in einem <Zweiten Arbeitsmarkt> mit geringerem Lohnniveau hineinzukommen.» Bierter deutet zwar die Gefahren an, die durch eine solche duale Arbeitswelt entstehen könnten, aber er geht bedauerlicherweise nicht näher auf sie ein. Eher vage bleibt er auch, wenn er neue Lebens- und Versorgungsweisen postuliert. Zwar verweist Bierter auf die zentrale Bedeutung der «Zeitsouveränität» und fordert eine «Kultur des Geniessens» - doch was das konkret heissen soll, können auch die zahlreichen Referenzen auf Bourdieu und Foucault nicht klären. Etwas konkreter wird es nochmals gegen Schluss, wo Bierter die zwei wichtigsten Produktionsweisen erklärt; die autonome und die integrierte. «Bei der autonomen Produktionsweise wird die Freiheit, zu handeln und selbständig produktive Beziehungen zu schaffen, bevorzugt, aber die produktive Potenz bleibt beschränkt [...]; im anderen Fall, der integrierten Produktionsweise, hat die produktive Potenz Vorrang, aber sie vergrössert enorm die gegenseitigen Abhängigkeiten auf Kosten der Autonomie der Menschen und von Regionen.» <br/> Der letzte Teil des Büchleins ist mit «<Steine> auf den Wegen zu einem ökologisch verträglichen Wohlstand» überschrieben. Bierter macht noch einmal eine geistesgeschichtliche Rundreise und diskutiert unter anderem die «soziale Entropie» verschiedener Gesellschaftstypen. Doch der Text bricht jäh ab, und die Leserin/der Leser bleibt alleine gelassen mit den gelesenen Seiten in der Hand. Was nun, fragt man sich, doch plötzlich scheint der Autor verschwunden. <br/> Das Buch ist aller Unvollständigkeit und dem abrupten Schluss zum Trotz einer der lesenswertesten Texte zu diesem Thema. Oder vielleicht ist es gerade wegen seiner Lücken so spannend zum Lesen: Sie regen an und inspirieren zum Weiterdenken. Von wie vielen Büchern kann man das heute noch behaupten?

Stichworte: Wohlstand, Arbeit, Soziologie, Philosophie, Wuppertal Institut, Entropie, Produktion
Schlagwort: Bücher und neue Medien > Rezensionen OekoDok

Medium:
Ökomedia
Publikationsdatum: 01.03.1995
Autor: ph.
Eigenschaften: Buch;

Buchangaben:
Wege zum ökologischen Wohlstand (= Wuppertal Texte), Birkhäuser, Basel Berlin Boston, 1995.
Buchautor: Bierter, Willy
Seiten, Preis: 94 S. / 12 Fr.
ISBN: ISBN 3-7643-5125-X

Abstract-Nr: 45375
Abstract-ID: 00501050018