Oekodok
|
|
|
|
Abstract
Entwicklungspolitik aus Schweizer Sicht: Aktuell und kompetent
Die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit steht vor einer Neuausrichtung. Das Ende des Ost-West-Konfliktes, die Globalisierung der Umweltdebatte und nicht zuletzt die anhaltende Strukturkrise der Weltwirtschaft haben zu einem neuen Aufflammen entwicklungspolitischer Diskussionen geführt. Richard Gerster, einer der profundesten Kenner dieser Debatten in der Schweiz, hat sich soeben mit einer Publikation zu Wort gemeldet, die eine breite Beachtung verdient. «Nord-Süd-Politik: abschreiben oder investieren» ist ein Buch, das gleichzeitig mehrere Funktionen erfüllt: In erster Linie ist es ein engagierter Diskussionsbeitrag eines Insiders. In zweiter Linie ist das Buch die wohl beste aktuelle entwicklungspolitische Übersichtsdarstellung aus schweizerischer Sicht, die zurzeit erhältlich ist. Und drittens ist das Buch ein Teil eines Forschungsprojektes, nämlich des Nationalen Forschungsprogramms 28. <br/> Unter dem Titel «Die Welt im Wandel» geht Gerster gleich zu Beginn der Frage nach, «welche für die Südpolitik relevanten Koordinaten [...] sich in den letzten 10-15 Jahren verändert [haben]». Er analysiert dabei einen politischen Wandel (Ende der Ost-West-Konfrontation), einen wirtschaftlichen Wandel (weltwirtschaftliche Marginalisierung des Südens), einen ökologischen Wandel (Erkenntnis, dass die Wirtschaftsweise des Nordens nicht globalisierbar ist), einen weltanschaulichen Wandel (ideologischer Durchbruch des Kapitalismus) und einen Wandel der Ordnungsmächte (Krise des Staates im Süden). Auf diesen ersten Seiten gelingt es Gerster, die Leserin / den Leser für den nun folgenden «Versuch einer Standortbestimmung» einzustimmen. In diesem zweiten Kapitel zieht Gerster eine knappe, aber sehr differenzierte Bilanz der bisherigen Entwicklungspolitik. Im Unterschied zu zahllosen ähnlichen Darstellungen beschränkt sich Gerster dabei nicht auf die kompilatorische Wiedergabe von wahllos zusammengeklaubten Statistiken (zumeist zweifelhafter Qualität und Aktualität), sondern er zeigt anhand einiger Themen die zwei Seiten jeder Statistik auf. Ein Beispiel: Die Weltbevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten so schnell gewachsen wie noch nie. Auf der anderen Seite ist die Anzahl der Geburten pro Frau in vielen Ländern - darunter China, Brasilien und Mexiko - zwischen 1960 und 1991 um mehr als die Hälfte gesunken. «Dieser Rückgang der Fruchtbarkeit in rund einer Generation ist in der Bevölkerungsgeschichte einmalig», schreibt Gerster zu dieser wenig bekannten Tatsache. Immer wieder verweist Gerster diskret auf die Fallstricke vereinfachter Darstellungen und lässt dabei keine Zahl im luftleeren Raum stehen. <br/> Einen zentralen (und sehr anregenden!) Abschnitt bilden die «Zehn Leitgedanken» für eine zukünftige Entwicklungspolitik, die Gerster bereits in sein zweites Kapitel eingebaut hat (weshalb eigentlich schon hier?). Dabei spannt er einen weiten Bogen: So schreibt er, dass es «ohne eine tragfähige, landesinterne Wirtschafts- und Sozialpolitik im Süden [...] keine Entwicklungserfolge» gebe, und bricht damit mit vielen vereinfachenden Vorstellungen hiesiger Entwicklungsideologen, die alle Defizite mit der Schuld des Nordens erklären wollen. Wenn Gerster dann schreibt, dass in der Entwicklungspolitik «nicht ein Zuviel, sondern ein Mangel an Eurozentrismus» existiere, dann scheint das auf den ersten Blick widersinnig zu sein. Doch die Erklärung folgt sogleich: Europäische Entwicklungserfahrungen seien «allzuoft gründlich missachtet» worden: «Die Kernfrage geht nach den historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen von Entwicklung.» Wenn man von Europa lernen wolle, dann genüge es eben nicht, einfach das Prinzip der Marktwirtschaft in alle Welt zu exportieren, sondern dann müsse auch eine Agrarreform, eine progressive Besteuerung und eine gesellschaftliche Partizipation mitgemeint sein. Der Schlüssel für eine menschengerechte Entwicklung, so eine weitere Leitidee Gersters, liegt bei der Partizipation der Menschen. <br/> Alles in allem bilden diese zehn Punkte eine solide Basis für den gegenwärtigen entwicklungspolitischen Diskurs. Von besonderer Bedeutung für die Schweiz sind dabei die neuen aussenpolitischen Herausforderungen, die der beschriebene Wandel mit sich bringen wird: eine Neudefinition der Neutralitätspolitik, die schleichende Entdemokratisierung der aussenpolitischen Entscheidungen und der sich wandelnde Sicherheitsanspruch des Nordens sind einige der Stichworte. <br/> In den folgenden vier (Haupt-)Kapiteln geht dann Gerster ausführlich auf die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit ein: Einem allgemeinen Kapitel folgen Schilderungen der bilateralen und der multilateralen Zusammenarbeit sowie der Rolle der privaten Hilfswerke. In allen vier Kapiteln versteht es Gerster, die wichtigsten Fakten knapp darzulegen, auf die Probleme hinzuweisen und - das vor allem - durchaus innovative Verbesserungsvorschläge zu liefern. Besonders spannend ist dabei die Diskussion der Kohärenz-Problematik. Dabei geht es um die «Bündelung verschiedener Massnahmen im Sinne ihrer sich gegenseitig verstärkenden oder zumindest nicht widersprechenden Ausrichtung auf das gemeinsame Ziel der Entwicklungsförderung». Gerster zählt die wichtigsten Widersprüche der schweizerischen Politik auf (Drei-Kreis-Modell der Ausländerpolitik, «Milchpulverhilfe», Zollpolitik, Waffenlieferungen, internationale Rechtshilfe ...) und macht konkrete Verbesserungsvorschläge: Analog zum Europa-Integrationsbüro soll ein Büro für internationale Zusammenarbeit eingerichtet werden, mit einer «Weltverträglichkeitsprüfung» soll der Bundesrat Gesetzesvorlagen auf die Vereinbarkeit mit den Zielsetzungen der Südpolitik prüfen, und ausserdem soll die Rolle der Schwerpunktländer gestärkt werden. <br/> Am Schluss des Buches fasst Gerster in einer «Reform-Agenda» seine wichtigsten Forderungen und Vorschläge zusammen. Der Text des Bundesgesetzes rundet die Publikation ab. Dass das Buch nicht ganz so spannend geschrieben ist wie ein Krimi von Raymond Chandler, mag die geneigte Leserin / der geneigte Leser gerne verzeihen. Etwas mehr ärgert hingegen die unsaubere Lektorierung des Buches: Mehrere Druckfehler, eine abgeschnittene Graphik und eine nicht ganz vollständige Bibliographie zeugen von einer Schludrigkeit, die leider auch bei renommierten Verlagen zur Regel geworden ist. Vermisst wurden ausserdem ein Glossar (Wer weiss schon, was ein «Quintil» ist?) und ein etwas ausführlicheres Register.
Stichworte: Bilaterale Entwicklungshilfe, multilaterale Entwicklungshilfe, Entwicklungszusammenarbeit, DEH, UNCED, Weltbank, Währungsfonds, humanitäre Hilfe
Schlagwort: Bücher und neue Medien > Rezensionen OekoDok
Medium: Ökomedia
Publikationsdatum: 01.04.1995
Autor: ph.
Eigenschaften: Buch;
Buchangaben: Nord-Süd-Politik: abschreiben oder investieren? Perspektiven der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit, Orell Füssli, Zürich, 1995.
Buchautor: Gerster, Richard
Seiten, Preis: 160 S. / Fr. 29.80
ISBN: ISBN 3-280-02326-2
Abstract-Nr: 45386
Abstract-ID: 00501050029