Oekodok
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Abstract
Ein lesenswertes Buch über ein unappetitliches Thema
Noch ehe der Magen dreimal knurrt, erfahren die LeserInnen dieses Buches, warum ihnen immer wieder auf den Magen schlägt, was doch bekömmlich hätte sein sollen: Nahrungsmittel.<br/>Verstorbene SprachwissenschafterInnen rotieren wahrscheinlich seit Jahren in ihrem Grab wie Brathähnchen am Grill – denn was das deutsche Lebensmittelrecht mit der Sprache anstellt, spottet jeglicher Sprachlehre: Wo «Fleisch» draufsteht, muss gar nicht immer Fleisch drin sein. Es kann sich durchaus so Wunderloses wie Lymphknoten, Speiseröhren und Speicheldrüsen hinter dieser Bezeichnung verbergen: Das deutsche Lebensmittelrecht macht's möglich. Bei der Kalbsleberwurst beispielsweise kann der Name «heute allenfalls als Hinweis auf einen gewissen Kalbfleischzusatz interpretiert werden», schreibt das Verfasser-Trio. Und das ist im Vergleich zu anderen Beispielen noch einigermassen harmlos: Wer Käsestangen isst, kriegt bisweilen auch Natamycin ab. Das ist ein Antibiotikum gegen Mundfäule und Fusspilz und wird sonst nur gegen Rezept abgegeben.<br/>VegetarierInnen sollten sich daher bei der Lektüre etwas zurückhalten, bevor sie sich zu Ausrufen wie «Wir haben's ja immer schon gesagt!» hinreissen lassen, – oder künftig auch Wein grossräumig meiden: Wurden nicht Fischblasen zur Enttrübung von Weisswein eingesetzt, kann es beim Rotwein Hühnereiklar gewesen sein: Im Wein liegt eben auch die etwas besondere Wahrheit der Lebensmittelchemie. Und die bekommt gerade Hühnerei-AllergikerInnen nicht.<br/>Das durchschnittliche deutsche Brot wiederum ist ein Jammer für sich, über den uns Udo Pollmer seit Jahren aufklärt. Und wer, aus welchen wahrscheinlich wenig achtenswerten Gründen auch immer, auf die lächerliche Mode des Beaujolais primeur anspricht, aufgezuckerten Wein indessen ein Greuel findet, sollte sich über die Herkunft des hübsch klingenden Wortes «Chaptalisieren» schlau machen. Es bedeutet aufzuckern, und nach dieser Methode entsteht der Beaujolais primeur. Der Chemiker Chaptal, nach dem die Methode benannt ist, soll es unter Napoleon bis zum Innenminister gebracht haben, was uns zu einem anderen Thema bringt: der Lebensmittelindustrie und ihrem Verhältnis zur Macht.<br/>Weltweit massgebend für Deklarationen sind die Anforderungen, die der Codex Alimentarius festlegt. In den Sitzungen des Codex haben laut «Vorsicht Geschmack» vor allem die Industrieverbände Gewicht. Es gibt keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln.<br/>Ein weiteres Problem sind Lebensmittelallergien – und die Wege, mit denen die Schulmedizin nicht eben krampfhaft versucht, ihnen auf die Schliche zu kommen, und auf diese Weise «PseudoallergikerInnen» in Massen schafft (Zitat über die Qualität von gängigen Allergietests: «Prädikat 'besonders wertlos'»).<br/>Pollmer, Hoicke und Grimm führen in den neun Kapiteln durch das Grauen der Lebensmittelchemie. Sie beschränken sich dabei vornehmlich auf deutsche Begebenheiten, ohne dass klar würde, ob die beschriebenen Unsäglichkeiten auch für andere Länder wie zum Beispiel Österreich oder die Schweiz Geltung haben (wobei man dies, leider, mit Fug und Recht mehrheitlich annehmen muss). Das Buch ist sehr populär, ja: süffig geschrieben – soweit man dies von einem dermassen unappetitlichen Thema sagen darf. Die Aussagen sind wissenschaftlich abgestützt und lassen sich über die umfangreiche Anmerkungsliste verifizieren (und weiterspinnen). Indessen erhebt das Buch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ebensowenig vollständig ist das nachgereichte «Verbraucherlexikon der Lebensmittelzusatzstoffe», das vom E-Nummern-Schlüssel ergänzt und von einem Stichwortverzeichnis abgerundet wird. Leider fehlt bei den E-Nummern eine kurze Einschätzung, wie harmvoll oder harmlos der jeweilige Zusatzstoff sei: Hierzu muss man den Weg zurück, ins vorangestellte Lexikon auf sich nehmen – um dann unter Umständen festzustellen, dass der gesuchte Begriff nicht enthalten ist. Das ist bei einem immerhin fast 200 Seiten umfassenden Lexikonteil unangenehm, tut der Qualität des Buches im gesamten aber keinen Abbruch.
Stichworte: Flavanole, Alkohole, Milchproteine, Gesundheit, Krankheiten, Ekzeme, Allergien, Allergene, Lebensmittelallergien, Lebensmittelindustrie, Farbstoffe, Gifte, gesetzliche Spielräume, Lebensmittelwirtschaft, Backmittel, Enzyme, Winzer, künstliche Aromen, Aroma, naturidentische Aromastoffe, Additive, Molke, Verwertung, Kekse, Chips, Mayonnaise, Literaturangaben, Todesfälle, Deklarationen, Schokolade, Lezithin, Bäckereien, Haare (nicht in der Suppe, sondern im Brot – und zwar absichtlich), Instant-Zeugs, Convenience-Food, Konservierungsstoffe, Konservierungsarten (und Folgen dieser Konservierungen), Fische, Nematoden, Lebensmittelvergiftungen, Vergiftungen, Zubereitungsarten, Japan, Deutschland, USA, Sprengstoffe, Vergiftungen, Süssstoffe
Schlagwort: Bücher und neue Medien > «Buch des Monats»
Medium: Ökomedia
Publikationsdatum: 23.02.1998
Autor: tsc.
Eigenschaften: Buch; Bericht;
Buchangaben: Vorsicht Geschmack: Was ist drin in Lebensmitteln? Mit einem Lexikon der Zusatzstoffe, S. Hirzel-Verlag, Stuttgart, 1998.
Buchautor: Pollmer, Udo / Hoicke, Cornelia / Grimm, Hans-Ulrich
Seiten, Preis: 344 S. / 49 DM
Abstract-Nr: 94192
Abstract-ID: 00511300011